Eine Begegnung, die mich sehr geprägt hat, wieviel Hingabe in Kleinigkeiten ganz viel Grosses bewirken:
Diese Begegnung bereicherte mich bereits 2023. Die jenigen, die diesen Text kennen, das Ende ist neu...
Im Leben begegnen uns viele Menschen, manche flüchtig, manche am Rande, manche laut und manche ganz leise, manche zeigen uns, wie wir nie sein wollen, manche liebt man auf viele Arten und möchte sie bis ans Lebensende zum engsten Kreis zählen dürfen... und dann gibt es noch die, die ganz leise kommen, ganz kurz und unauffällig bleiben, zu einem Zeitpunkt, wo man sie nötiger nicht brauchen könnte und dann verschwinden sie wieder ganz leise...
so ein Mensch ist Gerlinde...
Wir sind eine Truppe, die ihr Essen gemeinsam einnimmt. Gerlinde ist eine gepflegte Dame, fast taub, gehbehindert, und weiss wie die Wand... Gerlinde sagt nichts, Tag ein Tag aus. Sie sitzt einfach nur neben mir, bittet mich um Hilfe, ihre Hände sind krank, steif und taub, ich öffne Gerlinde ihre Marmelade, helfe ihr mit dem verdammt klebrigen Honig, ihre Hände sind total verklebt, ich wär schon ausgeflippt, das Taschentuch klebt sogar daran fest, Gerlinde stört es nicht...ich schäle ihre geliebte Apfelsine...hole ihr den Nachtisch und den Kaffee....sie wär mir nie besonders aufgefallen, hätte sie woanders gesessen. An einem Tag war der Platz neben mir schon besetzt. Als wir gingen, kam Gerlinde zu mir: hallo, ich habe einen grossen Wunsch: können wir morgen wieder an einem Tisch sitzen? Ich wusste nicht, dass es so wichtig sein könnte, am richtigen Tisch zu sitzen, ich hatte sie ja nur ein paar Mal angelächelt und ihr geholfen. Ab da sassen wir drei Mal am Tag zusammen. Sie fragte mich, wo ich herkomme und ob ich Kinder hätte. Sie freute sich so für mich, über 4 gesunde Kinder... sie fragte ob ich Fehlgeburten hatte, ja sehr viele...danach fragte ich sie das Gleiche: sie hat ihren Sohn einen Tag vor Gebtermin still geboren, er hatte die Nabelschnur um den Hals. Ich hab meine Hand auf ihre gelegt und ihr ganz lang in die Augen gesehen... Worte waren völlig überflüssig. Kinder zu verlieren ist die eine Sache, aber nie welche grossziehen zu dürfen eine Andere! Seit dem hat Gerlinde nur noch geredet...wir haben viel gelacht...morgens ist Gerlindes Blutdruck im Keller und sie redet nur Blödsinn. Jeden Morgen hat sie gefragt, ob ich noch beide Brüste habe... (obwohl man sie eigendlich nicht übersehen kann)...und jeden Tag hab ich ihr erzählt, dass ich gar kein Krebspatient bin. Das war wirklich ganz schön lustig, weil sie herzlich über sich selbst lachen kann. Einen Tag hab ich mich beschwert, dass der Trainer im Schwimmbad unmöglich war. Da sagt Gerlinde, die sich sofort meinen Namen gemerkt hat, Nicole, sei doch einfach nur glücklich ins Wasser zu können und zu dürfen, geniesse das weiche Wasser auf deiner Haut...
Sie krempelt ihren Ärmel hoch: ich darf nie mehr ins Chlorwasser, ihre Arme sind mit Wunden und Krusten übersäht. Gerlinde ist 73 und kämpft seit vielen Jahren gegen Hautkrebs! Er kommt immer wieder. Gerlinde ist eine gebildete Frau, die in ihrem Leben unglaublich viel geleistet hat. Ich habe grosse Achtung vor jedem in die Jahre gekommenen Menschen, wer weiss, welche Hürden jeder durchlebt hat! Ich hab Gerlinde von meinen grossen gesteckten Zielen erzählt, danach war es still am Tisch! Ich fragte: Was ist passiert... Gerlinde? Sie sprach ganz ruhig: Nicole, ich habe "nur" 2 Ziele: das nächste Weihnachten zu erleben und meinen goldenen Hochzeitstag mit meinem geliebten Mann im nächsten Frühjahr zu feiern. Da standen mir die Tränen in den Augen: ich fragte Gerlinde, warum? Sie hatte vor wenigen Minuten das abschliessende Entlassungsarztgespräch: wo ihr die Spezialisten rieten, ihre langjährigen Kämpfe gegen Krebs mit Chemos, Bestrahlungen und Immuntherapien abzubrechen. Denn die Folgen für ihr Herz wären viel schlimmer als jeder Krebs. Ich habe mich geschämt über viel zu grosse Ziele geredet zu haben. Gerlinde liebt Apfelsinen, sie kann sie nicht mehr allein schälen, da hab ich ihr eines Morgens einen Teller bereitet, die geschälte kleingemachte Apfelsine hübsch wie eine Sonne angerichtet und hingestellt! Ich hätte es fasst nicht gemacht, weil ich gar keine Lust hatte...ich Idiot! Gerlinde hatte Tränen in den Augen! Nicole, diese Geste versüsst mir das Leben! Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der mit so viel Freude eine einfache Apfelsine verputzt hat!
Ich habe Ehrfurcht, dass soviel schlauere Menschen als ich, die ganzen kleinen Dinge im Leben als die wirklich Grossen sehen. Heute habe ich mich von Gerlinde verabschiedet, sie sagte nur Danke, du bist so ein herzlicher Mensch, Nicole! Wir sind nicht traurig, weil unsere Begegnung hier endet, sondern ehrfürchtig und sehr dankbar, dass ich diese starke, weise Frau kurz kennenlernen durfte, sie hat mir zum rechten Zeitpunkt gezeigt, dass unsere kleinen Wünsche wahrscheinlich unsere wichtigsten im Leben sind. Tatsächlich schwimme ich jetzt immer eine Runde mehr für Gerlinde mit und das Wasser ist plötzlich viel viel weicher! Und meine klebrigen Hände stören mich auf einmal auch so gar nicht mehr! Ich muss sogar darüber lachen! Ich werde im Leben ganz sicher mehr darauf achten, wer so neben mir sitzt. Ein freundliches Lächeln und jede kleine Geste macht diesen Menschen vielleicht viel glücklicher in einer der schlimmsten Phasen seines Lebens, als man denkt! Und was man Kleines gibt, kommt manchmal als einer der grössten, richtungsweisendsten Boomerangs zu einem zurück mitten in Herz und Verstand als eine der wichtigsten Lehren! Ich bin glücklich, meine Apfelsine noch selbst schälen zu können und nie wieder werde ich sie einfach verschlingen, sondern mit Liebe zubereiten, wie eine Sonne drappieren und jeden Bissen geniessen! Und ich werde jeden Sonnenstrahl auf meiner Haut geniessen, denn ganz viele Menschen dürfen das nicht!
Heute beim Essen habe ich erfahren, dass Gerlindes Platz nun für immer leer bleiben wird, das hat mich echt getroffen.
Klebriger Honig ist übrigens ganz was Wunderbares...
Danke Gerlinde!❤